Darja: Ein Stakkato an Höchstschwierigkeiten

Sie hatte gar nicht hingeschaut zwischen den einzelnen Handgeräten, wusste deshalb nicht, wo sie steht. Mehr als zwei Stunden lang war Darja Varfolomeev allein darauf fokussiert gewesen, alles richtig zu machen bei ihren anspruchsvollen Vorträgen. Doch als sie nach der letzten ihrer vier fast makellosen Übungen am Freitagnachmittag in der Arena Porte de la Chapelle auf die Anzeigetafel blickte, sah sie, dass sie Olympiasiegerin ist. Die erste aus Deutschland im Mehrkampf der Rhythmischen Sportgymnastik, und das, so erklärte die 17-Jährige kurz darauf, „bedeutet mir alles“.

Der Druck war immens gewesen. Im vergangenen Jahr hatte Varfolomeev bei den Weltmeisterschaften in Valencia alle fünf Einzeltitel gewonnen, wurde in der Folge auch Zweite bei der Wahl zur „Sportlerin des Jahres“. Bei den Spielen von Paris galt sie als Favoritin auf die Goldmedaille, war gefragte Gesprächspartnerin und begehrtes Model im Vorfeld. Die vergangenen Monate waren auch kompliziert. Zwei Küren wurden neu gestaltet; es braucht Zeit, bis sich so eine Choreografie aus Pirouetten und Sprüngen, tänzerischen Elementen und anspruchsvollen Jonglagen mit Ball oder Keulen stabilisiert. Immer wieder wackelte Varfolomeev bei Weltcups oder Grands Prix. Bei den deutschen Meisterschaften musste sie den Vierkampftitel ihrer Trainingskollegin Margarita Kolosov überlassen, die jetzt in Frankreich als Vierte nur knapp einen weiteren Podestplatz verpasste. Bei den Europameisterschaften in Budapest reichte es für Varfolomeev zu Bronze.

Jeder Wettkampf habe sich schon wie der olympische angefühlt, erklärte ihre aus Weißrussland stammende Trainerin Yuliya Raskina, 2000 selbst Olympiazweite. „Genauso stressig, alle haben geguckt, alle haben kommentiert und prognostiziert, was möglich ist und was nicht. Es war wahnsinnig schwer.“

Auch im Vorkampf von Paris sprang „Dascha“ einmal der Reifen weg, und sie wurde nur Zweite. Deshalb sei sie sehr nervös gewesen, als sie einen Tag später zu ihrem ersten Auftritt vor 8000 Zuschauern auf die Fläche trat, erzählte Raskina. Doch diesmal turnte Varfolomeev „fast perfekt“ ihre Programme durch, musste nur mit dem Band die Höchstwertung der am Ende zweitplatzierten Bulgarin Boryana Kaleyn überlassen.

Aller Schweiß, alle Arbeit, alle Schmerzen, alle Tränen hätten sich mit diesem Triumph nun ausgezahlt, sagte die Gewinnerin. Knapp 60 Stunden pro Woche steht sie in der Halle, hatte zuletzt auch in der Schule pausiert. Doch die gebürtige Russin hat noch deutlich mehr in diesen Erfolg investiert: Im Alter von zwölf Jahren zog sie allein und ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland um, wo sie und ihre Mutter im Schmiden bessere Chancen auf eine Förderung des Talents sahen. Im heimatlichen Sibirien lief Varfolomeev unterm Radar derer, die die Topgymnastinnen für das Moskauer Zentrum auswählen.

Ein Großteil ihrer Familie sah der mutigen jungen Frau nun an der Seine zu. Einen Tag später ging es gemeinsam zum Eiffelturm. Nach der Schlussfeier der Spiele wartet noch ein Urlaub. Aber dann konzentriert sich Varfolomeev wieder auf ihre sportlichen Ziele. Denn Paris soll nur ein Anfang sein: In vier Jahren in Los Angeles, versicherte sie, wolle sie erneut auf die Fläche treten und Edelmetall nach Deutschland holen. 

Bild: 24passion