Dauser und Kevric – hoffen und staunen

Es könnte seine letzte Kür auf internationaler Bühne sein. Doch darüber will Lukas Dauser vor dem olympischen Barrenfinale an diesem Montag (11.45 Uhr) nicht nachdenken. Die Entscheidung, ob und wenn ja, auf welche Weise der Sportler des Jahres 2023 nach den Spielen von Paris seine Karriere fortsetzen wird, hat er auf die Zeit danach verschoben. Jetzt liegt der Fokus des 31 Jahre alten Kunstturners erst mal darauf, seine Übung „so gut wie möglich durchzuziehen“. 
Vor drei Jahren, in Tokio, hatte der Unterhachinger Silber gewonnen, im vergangenen Jahr, bei den Weltmeisterschaften in Antwerpen, sicherte er sich den Titel. In Belgien war allerdings der chinesische Olympiasieger Zou Jingyuan nicht am Start, ein „Überflieger“ an den beiden Holmen, wie es die US-Amerikanerin Simone Biles im Mehrkampf der Frauen sei, sagt Dauser. Auch sonst bekommt es der Deutsche mit starken Gegnern zu tun, darunter die beiden Ukrainer Oleg Wernjajew und Illja Kowtun, der eine Olympiasieger von Rio 2016, der andere amtierender Europameister. Der Japaner Shinnosuke Oka, Goldmedaillengewinner im Mehrkampf. Oder der Türke Ferhat Arican, der in Tokio Bronze holte.
Taktieren kann Dauser nicht. Die schwerere Übung, die er vorbereitet hatte und mit der er sogar einen höheren Ausgangswert hätte erzielen können als Qualifikationssieger Zou, kann der Vorkampffünfte nicht präsentieren. Nach einem Muskelbündelriss am rechten Oberarm im Juni musste Dauser erst mal pausieren und kann erst seit seiner Ankunft an der Seine wieder richtig trainieren. „Vorher war das eher ein Ausprobieren“, sagt er. Ein wenig Feeling und Spritzigkeit fehlten ihm; er werde nichts riskieren.
Die Schmerzen würden weniger, aber sind noch nicht ganz verschwunden. Um den lädierten Oberarm zu schonen, trägt Dauser eine Bandage. Anfangs hatte er keine passende gefunden; „die meisten sind aus Neopren, und man rutscht mit ihnen ein bisschen“. Sein Kumpel, der zweimalige Sportler des Jahres und Reck-Olympiasieger Fabian Hambüchen, schickte ihm daraufhin die Volleyball-Knieschoner, die er selbst während seiner Karriere zweckentfremdet hatte. Der Wetzlarer hatte sie noch in seinem Keller gefunden. 
Dauser trägt den einen abgewetzten jetzt zum Training, den anderen trug er bereits in der Qualifikation. „Mit denen fühlt es sich viel besser an“, sagt Dauser. Das „kleine Schaumstoffteil“, das er nach unten dreht, federe beim Aufprall auf dem Holz ein bisschen ab. 
Einen Tag vor Dauser wird auch Olympia-Debütantin Helen Kevric noch einmal in der Arena von Bercy vor die Kampfrichterinnen treten. Die 16-Jährige, jüngstes Mitglied im deutschen Aufgebot, hat sich als Achte für das Finale am Stufenbarren (15.40 Uhr)  qualifiziert und dabei Superstar Biles den letzten Platz in dieser Entscheidung weggeschnappt. 
Anders als Dauser, der in Paris bereits seine dritten Spiele erlebt, besitzt Kevric noch keine Routine bei solchen Großereignissen, startet in diesem Jahr erstmals bei den Seniorinnen. „Es macht Spaß, mit so großen Turnerinnen zu turnen“, sagt die Stuttgarterin, die schon die Qualifikation im gleichen Durchgang wie die Amerikanerinnen absolviert hatte und dabei die ohrenbetäubende Stimmung mitbekam, mit der Tausende von US-Fans auf den Tribünen die Auftritte ihres Teams begleiteten. Auch dass Stars wie Schauspieler Tom Cruise oder Sängerin Lady Gaga dort saßen, hatte Kevric mitbekommen. Dass  Model Kendall Jenner da war, freute sie besonders. 
Das hinderte das Talent nicht daran, ins Mehrkampffinale einzuziehen und dort mit einem Auftritt ohne größere Fehler einen beeindruckenden achten Platz zu belegen. Das ist das beste Ergebnis einer deutschen Turnerin seit den Spielen 1988 in Seoul. „Das ist schon schön“, sagt die Tochter des früheren Stuttgarter Fußballprofis Adnan Kevric, die Achtbeste der Welt zu sein. 
Im Barren-Finale wird alles noch ein bisschen aufregender sein, „da richtet sich der Fokus der ganzen Halle nur auf mich“, weil an den anderen Geräten zeitgleich nicht geturnt wird. Es sei für sie „schon krass“, überhaupt so weit gekommen zu sein. „Damit hatte ich nicht gerechnet“, sagt Kevric. 
Als Zwölfjährige hatte sie erstmals davon gesprochen, zu den Olympischen Spielen zu wollen, „aber da war das noch nicht realistisch“, sagt sie. Das änderte sich in den Folgejahren, als sie Junioren-Europameisterin und Zweite bei den Nachwuchs-Weltmeisterschaften wurde. Bei ihren ersten kontinentalen Titelkämpfen bei den Großen in diesem Jahr beendete sie als Vierte das Barrenfinale. 
Kevric gilt als besonders nervenstark, als eine, die mit Druck sehr gut umgehen kann. Nach dem, was sie in Paris schon erreicht hat, könnte sie jetzt ganz locker bleiben. Doch ohne den Ehrgeiz, immer das Bestmögliche zu geben, wäre Kevric gar nicht erst so weit gekommen.

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