Starkes Signal des deutschen Sports

Das Ergebnis einer kleinen internen Umfrage am Schlusstag der European Championships nach den aktuellen Favoriten für die Wahl „Sportler des Jahres“ überraschte. Denn die Besten von München liegen vorne. Vor den Olympia-Heroes von Peking. Auch wenn das eher eine Momentaufnahme ist, sind 26 Goldmedaillen doch eine Wucht. Vor allem, weil kaum jemand mit einer solchen Ausbeute gerechnet hatte. Die Sportnation Deutschland stand in Frage, zum Beispiel durch das magere Abschneiden bei der Leichtathletik-WM.

Aber die bayerischen Games zeigten: Eine kontinentale Veranstaltung, ohne Amerikaner, Asiaten und Australier, bieten ungleich mehr Möglichkeiten, um sich am Medaillentisch zu bedienen. Und der sagenhafte Heim-Vorteil, dieser Geist, der durch die Straßen der Metropole wehte, der Hot Spot am Königsplatz, in der Olympiahalle, unter dem Zeltdach, in der Messehalle, im Park: das stachelte nicht nur an, sondern elektrisierte die Athletinnen und Athleten des Team D. Da katapultierten sich Sportler aufs Podium, die vorher nur Insidern bekannt waren oder bittere Enttäuschung erlebt hatten.

Sporthilfe-Chef Thomas Berlemann sah ein „starkes Signal“ der deutschen Mannschaft. Er meinte zum Beispiel die unglaublichen Kanuten, die bewiesen, dass das Wasser der Regatta-Strecke von Oberschleißheim, wo die Ruderer verzweifelten, sehr wohl „tragfähig“ ist. Ob der Kajak-Vierer mit seinem Nachfolger Jacob Schopf, der den TV-Experten Ronny Rauhe völlig verzückte, oder Canadier-Legende Sebastian Brendel, dessen EM-Gesamtausbeute nun bei sagenhaften 25 Medaillen liegt. Goldige Paddel-Geschichten wurden geschrieben.

In der Rudi-Sedlmayer-Halle ging der Stern des Nürtingers Dang Qui auf, der erst Tischtennis-Idol Timo Boll entzauberte und sich dann auf den Thron schmetterte. Das sind alles starke Anwärter auf die Titel der Sportjournalisten zum Jahresende. Es wird eine superenge Entscheidung, weil das Angebot seit den Championships so immens ist.

Über Frauen-Power wurde schon viel geschrieben – im Sportjahr 2022. München machte da keine Ausnahme. Im Gegenteil. Ob der gelungene Abschied von Lisa Brennauer, das Tempo der Bahnsprinterinnen (Emma Hinze, Lea Sophie Friedrich mehrfach dekoriert) oder die Grazie der Leichtathletik. Gina Lückenkemper, Konstanze Klosterhalfen, die 4x100-m-Staffel verzückten das Stadion. Mehrere Teilnehmer gaben an, beim tosenden Lärm nicht einmal die Glocke für die Schlussrunde gehört zu haben. Der magische Abend mit 100-m-Gold (Lückenkemper) und Kauls Zehnkampf-Sieg wird sowieso in keiner Jahres-Chronik fehlen.

Da darf man Speerwurf-Europameister Julian Weber oder Marathon-Stürmer Richard Ringer nicht unterschlagen. Bei den Turn-Wettkämpfen sorgte Elisabeth Seitz (Gold am Stufenbarren) für Ekstase unter den 9000 Zuschauern. Der Spruch „die Halle bebte“ beschrieb die Gala da nur unzulänglich.

Der Brückenschlag von München nach Baden-Baden zur Sportler-Ehrung drängt sich massiv auf. Vergessen aber bleibt Peking kein bisschen. Und zahlreiche Sportarten wie Turnen, Radsport, Triathlon, Rudern haben ja noch „richtige“ Weltmeisterschaften vor sich. Hält der german hype da auch an?    

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Extra-Runde mit deutscher Fahne

Es ist als besondere Ehre gedacht für die Medaillengewinner bei den European Championships, dass sie auf einem Floß über den Olympiasee zur Siegerehrung gebracht werden. Konstanze Klosterhalfen erweckte den Eindruck, als wäre sie eine knappe Stunde nach dem bisher größten Triumph ihrer Karriere die paar Hundert Meter rund um das Olympiastadion zum Coubertinplatz lieber gelaufen. Die 25-Jährige war an diesem Abend in München kaum mehr aufzuhalten, weder im Rennen über 5000 Meter noch danach. Während die Konkurrentinnen im Ziel fast alle entkräftet zu Boden sanken, schnappte sich Klosterhalfen nach ihrem Sieg die deutsche Fahne und lief damit eine Extra-Runde, getragen vom jubelnden Publikum, und trat schließlich nicht die Spur außer Atem zu den Interviews an. „Ein Europameister-Titel ist etwas ganz Besonderes und dann auch noch vor Heim-Publikum“, sagt sie. Klosterhalfen hatte zwei Runden vor Renn-Ende die favorisierte 10.000-Meter-Europameisterin Yasemin Can aus der Türkei überlaufen und war schließlich mit großem Vorsprung im Ziel angekommen. „Es ist unbeschreiblich. Ich habe mich nicht mal getraut, an eine Medaille zu denken.“

Denn nach ihrem vierten Platz über 10.000 Meter drei Tage zuvor gab es Zweifel, ob sie tatsächlich auch über die halb so lange Distanz antreten solle, ob dafür die Kräfte nach der wegen einer Corona-Erkrankung im Juni unfreiwilligen Pause in der Vorbereitung reichen würden. Sie musste ihren Trainer fast überreden, sie starten zu lassen. Am Morgen des Rennens aber, gab sie zu, „hatte ich schon ein bisschen Bammel. Ich dachte, hoffentlich laufe ich nicht hinterher.“

Für Klosterhalfen ist die Goldmedaille von München wie ein kleiner Neubeginn nach schwierigen zwei Jahren mit Verletzungen und dem Wirbel um das mittlerweile formal aufgelöste Nike Oregon Project, dem sie seit 2019 angehörte. „Wenn man ganz oben ist, muss man auch durch die Zeit durch. Das gehört dazu“, sagte die gebürtige Bonnerin. „Ich bin denen so dankbar, die mit mir da durchgegangen sind.“ Trainer Pete Julian natürlich, aber auch ihre Familie. Klosterhalfen hatte auch noch genug Energie, sie alle an diesen goldenen Abend ausgiebig zu drücken und herzen.

Malaika Mihambo, die dreimalige „Sportlerin des Jahres“, war erneut ganz dicht dran am nächsten großen Coup – doch am Ende fehlten der Weitsprung-Weltmeisterin ganze drei Zentimeter. 7,03 m bedeuteten Silber, das die Heidelbergerin zusammen mit 30 000 Zuschauern unter dem Zeltdach ausgiebig feierte. Während die deutsche Leichtathletik, nach der WM in Oregon noch stark kritisiert, weiter lieferte. Lokalmatador Tobias Potye katapultierte sich mit einem Satz über 2,27 m im Hochsprung aufs zweithöchste Podest. Übrigens: nach einer Woche Traum-Wetter über der bayerischen Metropole beendeten kräftiger Regen und Sturm die Hochdruck-Phase. Der guten Stimmung bei diesen Games der Superlative tut dies keinen Abbruch. „Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen“ kommentierte der Münchner Merkur. Einfach elektrisierend, dabei zu sein… 

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Größte Aufholjagd des Zehnkampfs

Als sich die Zuschauer im Münchner Olympiastadion bereits erhoben hatten und feierten, saß Niklas Kaul noch auf der Tartanbahn und wartete. Er ahnte, vielleicht wusste er es auch schon, dass ihn sein fulminanter 1500-m-Lauf zum Abschluss des Zehnkampfes doch noch ganz nach vorne, zu EM-Gold, gebracht hat. Erst als das offizielle Ergebnis verkündet wurde, schwang sich der 24-Jährige auf und schnappte sich die deutsche Fahne.  „Emotional ist dieser Titel noch viel mehr wert als der WM-Titel vor drei Jahren“ gab Kaul zu. In Doha 2019 hatte er überraschend Gold gewonnen und war anschließend zum „Sportler des Jahres“ gekürt worden. Mit dem Triumph bei den European Championships vor heimischem Publikum hievte sich der Mainzer nun erneut in den engeren Favoritenkreis für die Auszeichnung am Ende dieses Jahres. „Ich bin wahnsinnig erleichtert, dass es wieder so gut funktioniert hat.“
Für Kaul war es der mehr als versöhnliche Abschluss einer Phase mit Problemen und Enttäuschungen wie die verpassten Medaillen bei den Olympischen Sommerspielen im vergangenen Jahr in Tokio und bei der WM vor ein paar Wochen in Eugene. Und auch in München lief nicht alles nach Plan. Nach dem verpatzten Diskuswerfen sei für ihn „im Kopf“ klargewesen: „Gold ist weg.“ Auch im Stabhochsprung blieb er hinter seinen Erwartungen zurück. Aber wie schon so oft hat Kaul auch dieses Mal in den letzten beiden Disziplinen noch einmal eine Show mit Höchstleistungen geboten. Nach 76,04 m im Speerwurf erlaubte er sich sogar eine viertel Stadionrunde. „Da ist mir ein ganz schöner Stein vom Herzen gefallen“, denn er hat sich damit zurückgebracht ins Gold-Rennen und vor allem habe er in dem Moment gewusst, „ich kann’s ja doch noch“. Und auf den abschließenden 1500 Metern zog er schnell an der Konkurrenz vorbei und lief ein einsames Rennen an der Spitze, getrieben vom Münchner Publikum, der Goldmedaille entgegen. „Mit sind fast die Ohren weggeflogen“, sagte Kaul angesichts der Anfeuerungen, ehe er sich wie bei den Zehnkämpfern üblich, zusammen mit allen anderen Athleten auf die Ehrenrunde im Stadionoval begab.
Einer, der ob Kauls Performance fast ausrastete, war Frank Busemann, seit Jahren kompetenter TV-Experte der ARD – und nach der WM in Eugene noch scharfer Kritiker der deutschen Leichtathletik. In seiner „Sportschau“-Kolumne würdigte er die Performance des Allrounders als „größte Aufholjagd in der Geschichte des internationalen Zehnkampfs.“ Dann überlegte sich Busemann (47), 1996 als Olympia-Zweiter selbst zum „Sportler des Jahres“ erkoren, mit welchem Synonym man diese Münchner Willensleistung beschreiben könnte. „Kaulig – für eine unglaubliche Leistung in größter Bedrängnis unter starkem Druck.“ Die „Duden“-Reaktion ist jetzt am Zug…  

 

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Schnellste Frau des Kontinents

Gina Lückenkemper sank überwältigt auf die Tartanbahn. Irgendjemand hatte ihr eine deutsche Fahne über die Schultern gelegt, als das Ergebnis des 100-Meter-Laufs verkündet worden war. Die beste deutsche Sprinterin wurde übermannt von ihren Gefühlen, Gold gewonnen zu haben, bei den European Championships vor eigenem Publikum, nun die schnellste Frau des Kontinents zu sein. Sie ist die erste deutsche Sprint-Europameisterin seit Verena Sailers Triumph 2010. „Ich kann das alles noch gar nicht fassen“, sagte Lückenkemper später, als die Freudentränen versiegt waren und sie trotz eines dicken Verbandes um das linke Bein glücklich in die Kameras lächelte.

Sie war am Ende, als sie kurz vor der Ziellinie die Brust im richtigen Moment noch ein Stück nach vorne schob – und damit um Millimeter vorbei an der schon wie die sichere Siegerin aussehenden Mujinga Kambundji aus der Schweiz, gestürzt. Ob die Wunde am Oberschenkel von diesem Unfall im Ziel kam „oder woanders“, wisse sie nicht, sagte Lückenkemper später. In der Euphorie an diesem unglaublichen Abend im Münchner Olympiastadion hatte sie die Verletzung erst ignoriert, sich schließlich aber doch behandeln lassen. Nach einem ersten Siegerinterviews und ein paar Fotos musste die 25-Jährige aus Soest sogar ins Krankenhaus, um die Wunde mit acht Stichen nähen zu lassen.

So ein Malheur lässt sich verschmerzen, zumal sie in den vergangenen Jahren schon wesentlich Schlimmeres überstanden hatte. Einige Blessuren, aber auch Kritik, wie und vor allem wo sie trainierte (USA). Nun ist sie wieder zurück in der Erfolgsspur. Bei der WM in Eugene im Juli hatte sie ihre Bestleistung und das Finale noch verpasst, später aber mit der Staffel Bronze gewonnen. Und auch dieses Mal war die Teilnahme am Endlauf in Gefahr. „Es sah nach dem Halbfinale zwischendurch so aus, als ob ich verzichten müsste.“ Der Oberschenkel, der vorsichtshalber schon getappt worden war, bereitete Probleme. Aber die DLV-Athletin biss sich durch – und erklomm vier Jahre nach ihrer EM-Silbermedaille von Berlin Europas Thron. Vielleicht ein Anlauf für die Bühne der Wahl „Sportlerin des Jahres“ im Dezember in Baden-Baden.

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